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Wer Widors Symphonien für Orgel auf der Grundlage der alten, zwischen 1872 und 1920 erschienenen Ausgaben spielt, kennt die Schwierigkeiten, sich dieser Musik zu nähern, die sich aus einer enormen Anzahl von Fehlern und Unstimmigkeiten im Notentext ergeben. Unmittelbar mit der Textproblematik verbunden ist die komplizierte Urheberrechtslage: So wurde Widors Werk in den USA bereits 1987 gemeinfrei, in der Europäischen Union erst 2007. Die erste US-Gesamtausgabe von John Near blieb in Europa 20 Jahre lang ohne jede Konkurrenz, was ihr Zeit gab, sich zu etablieren und von vielen als Referenzausgabe angesehen zu werden – mit allen Fehlern, die sie kolportierte.

 

Parallel zu der vor einigen Jahren bei Carus vorgelegten Ausgabe hat nun der belgische Komponist und Organist Luc Dupuis – langjähriger Titulaire in Woluwe-Saint-Pierre und Professor für Musiktheorie am Conservatoire Royal in Brüssel – eine vollständige und kritische, aber zugleich sehr praxisorientierte Ausgabe aller Widor-Symphonien vorgelegt: Als jemand, der seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Widors Orgelwerken vertraut ist, war Dupuis ebenfalls mit den zahllosen Fehlern konfrontiert, die in den alten Ausgaben enthalten waren und die bis heute immer wieder aufs Neue produziert werden und für Fragen sorgen.  Die Veränderungen, die Dupuis am überlieferten Notentext vorgenommen hat, erklären sich aus satztechnisch sehr gut begründeter Einsicht, schlagen sich aber außerdem vor allem in der Überarbeitung des zum Teil verheerenden Notenbilds der Erstausgaben nieder, das Dupuis in ein gut lesbares Querformat übertragen hat.

 

Entsprechend ist diese Ausgabe das Ergebnis jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit dem Werk Widors: Sie weicht insofern von den traditionellen Gepflogenheiten wissenschaftlich-kritischer Editionen ab, als sie den Notentext nicht mit Anmerkungen, eckigen Klammern und Querverweisen aller Art überfrachtet. Jeder Eingriff wird durch eine editorische Notiz am Ende der Partitur genau gekennzeichnet, deren Lektüre jedem selbst überlassen bleibt. So kann jeder frei entscheiden, wieviel er lesen möchte, um die Lesbarkeit der Edition zu verbessern. Redaktionelle Entscheidungen bleiben also nachvollziehbar (und sind zudem vollständig ins Englische übersetzt). Die Bände sind mit den Vorworten des Komponisten – ebenfalls zweisprachig – versehen, außerdem mit grundlegenden Bemerkungen zur Interpretation der Musik Widors und seiner Schule.

 

Die Ausgaben sind im Selbstverlag erschienen und über die Webseite des Herausgebers als gedruckte Version (bei Abnahme der Sammelbände im praktischen Ringbuchformat) oder vergünstigt als pdf-Download erhältlich; ihr großes Plus besteht in der Lese- und Wendefreundlichkeit und der damit verbundenen großen Praxisnähe der Bände, die der bemerkenswerten Erfahrung des Herausgebers geschuldet ist.

 

Univ.-Prof. Dr. Birger Petersen, Forum Kirchenmusik,  Seiten 43 - 46

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