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Warum war es notwendig, eine neue Ausgabe von
WIDORs zehn Symphonien zu veröffentlichen?

Blicken wir kurz auf die Geschichte zurück:

Jeder Organist, der Widors Symphonien auf der Grundlage der alten, zwischen 1872 und 1920 erschienenen Ausgaben spielt, kennt die Schwierigkeiten, sich dieser Musik zu nähern, die sich aus einer enormen Anzahl von Fehlern und Unstimmigkeiten im Text ergeben. Die Verleger, welche die Rechte an diesen Symphonien besaßen, hielten es nicht für nötig, etwas dagegen zu unternehmen, da sie sich nicht mit einer Konkurrenz konfrontiert sahen. Weil das Urheberrecht in den einzelnen Ländern nicht identisch ist, wurde Widors Werk in den USA 1987 gemeinfrei, während es in Europa erst seit 2007 gemeinfrei ist. Diesen Vorteil nutzend, veröffentlichte der amerikanische Organist John NEAR bei AR-Editions eine Ausgabe der zehn Symphonien von Widor und behauptete, alle Fehler der früheren Ausgaben korrigiert zu haben. Diese Gesamtausgabe blieb in Europa 20 Jahre lang ohne jede Konkurrenz, was ihr Zeit gab, sich zu etablieren und von einigen als Referenz angesehen zu werden.

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Es sei daran erinnert, dass der Organist John NEAR 1985 an der Boston University eine Dissertation mit dem Titel "The Life and Work of Charles-Marie Widor" einreichte, um den Grad eines Doctor of Musical Art zu erlangen. Die Arbeit wurde vor allem in Frankreich mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Die französische Zeitschrift "L'orgue" veröffentlichte 1988 unter anderem eine Sonderausgabe, die Widor gewidmet war und in deren Vorwort es hieß: "Nachdem wir die hier veröffentlichten Arbeiten abgeschlossen hatten, wurden wir auf eine Doktorarbeit über Widor aufmerksam, die von einem amerikanischen Organisten, dessen Namen wir hier nicht nennen wollen, verfasst worden war. Wir konnten eine Kopie davon erhalten, in der Hoffnung, darin einige interessante Details zu finden. Unsere Enttäuschung war groß: "dickes Buch, dünne Dissertation". Dieses Werk ist nicht in unserer Bibliografie aufgeführt, die nur die Werke enthält, die wir während unserer Arbeit konsultiert haben." (Alain HOBBS, L'orgue, Cahiers et mémoires, Nr. 40, S. 3, Paris, 1988). Ohne Kommentar.

Mein Zugang zu Widors Werk

Als jemand, der seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Widors Orgelwerken vertraut ist, war ich, wie jeder Organist, mit den unzähligen Fehlern in den alten Ausgaben konfrontiert, die heute immer wieder neu veröffentlicht werden. Da ich mich nicht von der negativen Kritik der französischen Zeitschrift "L'orgue" an John NEARs Arbeit beeinflussen lassen wollte, hatte ich gehofft, in seiner Ausgabe der zehn Symphonien Antworten auf die Fragen zu finden, die ich mir stellte. Im Jahr 2006 besorgte ich mir daher diese Gesamtausgabe und untersuchte sie eingehend und unvoreingenommen.  Doch leider war meine Enttäuschung, ähnlich wie bei Herrn HOBBS, groß.

Welche Probleme gibt es mit Widors Symphonien, die bei AR-Editions veröffentlicht wurden?

1. DIE FORM

Auf den ersten Blick sehen wir uns mit einer Partitur konfrontiert, deren Gravur und Layout es an Sorgfalt und Feinschliff mangelt. Einige Ungereimtheiten in der Gravur machen das Lesen manchmal sogar schwierig. Hier zwei Beispiele aus der 8. Symphonie auf den Seiten 40 und 42.

In der folgenden Abbildung fällt außerdem eine seltsam positionierte Registrierungsangabe auf.

2. INHALT

Das Hauptproblem der Ausgabe von John NEAR liegt in der Fülle an unpassenden Vorschlägen, von denen einige zu Fehlern aller Art führen, insbesondere zu Harmoniefehlern.
Im Adagio der fünften Symphonie in Takt 23 beispielsweise stellt die Dissonanz in der rechten Hand zwischen dem oberen natürlichen H und dem unteren B nicht das geringste Problem dar. John NEAR schlägt jedoch fälschlicherweise vor, der oberen Stimme ein b hinzuzufügen, als ob es sich dabei um ein Versehen handeln würde. Dieses Fragment befindet sich auf Seite 47. Außerdem wird diese Ergänzung im kritischen Apparat nicht erwähnt.

Das folgende Beispiel aus dem Finale der ersten Symphonie in Takt 110 ist noch beunruhigender, denn abgesehen von der Nutzlosigkeit der angedeuteten Alteration in der linken Hand im letzten Takt, schafft diese „Korrektur” einen Harmoniefehler, indem sie eine attraktive Note verdoppelt: das H. Dieses Fragment befindet sich auf Seite 52. Der kritische Apparat erklärt, dass dieser Zusatz optional ist, begründet ihn aber auf seltsame Weise: "M. 110, staff 2, note 7, the editor has inserted a natural because of the parallel octaves with staff 1, upper voice...". (Takt 110, 2. Notensystem, 7. Note, der Herausgeber hat wegen der parallelen Oktaven zum 1. Notensystem einen Becarre eingefügt, Oberstimme...) Diese Erklärung ist wenig überzeugend.

Wenn es jedoch unerlässlich ist, Korrekturvorschläge zu machen, schlägt die Ausgabe von John NEAR nichts vor. Diese Mängel sind zahlreich. Allein im Finale der dritten Symphonie beispielsweise lassen sich vier davon aufzählen. Die folgenden Fragmente vergleichen die nicht verzeichneten Fehler der AR-Ausgabe mit den Korrekturen in meiner Ausgabe (LD), die alle in der editorischen Anmerkung erläutert werden.

Es würde zu weit führen, hier eine vollständige Liste aller Fehler aufzustellen, die übrigens nicht nur Harmoniefehler betreffen. Es gibt auch viele Passagen, die in den alten Ausgaben unspielbar sind und für die keine Alternativen vorgeschlagen wurden. Selbst die Übersetzung von Widors Vorwort enthält eine Ungenauigkeit. Wenn Widor beispielsweise den niederländischen Orgelbauer Hess erwähnt, wird sein Name im Englischen mit "Hess de Gouda" statt mit "Hess from Gouda" übersetzt, da Gouda eine Stadt in den Niederlanden ist und nicht ein Teil des Namens des Handwerkers. Dieses Detail mag unbedeutend erscheinen, offenbart aber einen Mangel an Sorgfalt.

Die Entstehung meiner Ausgabe

Ich begann, eine neue Ausgabe zu erstellen, die ich für meinen persönlichen Gebrauch und ausschließlich auf der Grundlage von Quellen, die ich für zuverlässig halte, anfertigte. Nach und nach kam mir die Idee, meine Ausgabe der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, als eine Notwendigkeit vor, um diesem Komponisten gerecht zu werden, ermutigt durch eine seiner Maximen, die John NEAR in seinem Kommentar zu seinem Buch „Widor on Organ Performance Practice and Technique” zitiert: "You have a duty to do a thing if you are sure it is necessary for the general interest!" (Sie haben die Pflicht, etwas zu tun, wenn Sie sicher sind, dass es im Gemeininteresse erforderlich ist!)


Diese Ausgabe ist also das Ergebnis einer jahrzehntelangen gründlichen Untersuchung und Reflexion. Sie weicht insofern von den traditionellen Gepflogenheiten musikwissenschaftlicher Editionen ab, als sie den Notentext nicht mit Anmerkungen, eckigen Klammern und Querverweisen aller Art überfrachtet. Jeder Eingriff wird durch eine editorische Notiz am Ende der Partitur genau gekennzeichnet, deren Lektüre im Ermessen des Interpreten liegt. So kann jeder frei entscheiden, wie er lesen möchte, um die Lesbarkeit zu verbessern. Es steht jedem frei, die Angaben, die er im Notentext sehen möchte, in den Notentext zu übertragen. Die Aussage der redaktionellen Entscheidungen ist also präsent und vollständig, und sie ist zudem komplett ins Englische übersetzt. Das Ziel meiner Arbeit ist es, den Interpreten endlich eine praktische, gut lesbare und fehlerfreie Ausgabe zu einem sehr günstigen Preis anzubieten. Ich hoffe, dass mir das gelungen ist.

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Luc Dupuis

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